Heinz Gstrein

Abrücken von Moskau in Zeitlupe

Litauens Weg in die Eigenkirchlichkeit dennoch kaum reversabel

Von Heinz Gstrein

Vilnius/Phanar/Moskau. In Litauen geht der Prozess zur Herauslösung seiner etwa 150 000 Orthodoxen aus der Zuständigkeit des Moskauer Patriarchen weiter. Nicht einmal einen Monat nach Aufnahme von fünf litauischen Priestern in die Sonderjurisdiktion (Omophorion) des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel haben diese zunächst kirchenlosen Geistlichen am 8. März ihr eigenes Gotteshaus erhalten. Wie das bulgarische Religionsportal „Doxologia Infonews“ berichtet, wurde ihnen vom Stadtrat auf Antrag von Bürgermeister Remigius Simasius die Sv. Varvara übergeben, eine der kleinen, aber schönsten und bedeutendsten Kirchen von Vilnius. Sie wurde Anfang des 20. Jh. von Grigori Puschkin, dem jüngsten Sohn des großen russischen Dichters Alexander Puschkin errichtet. Er bewohnte mit seiner Frau Varvara ein nahegelegenes Herrenhaus im Markuciai-Park. Dieses wurde unter sowjetischer Herrschaft zunächst 1940 und dann endgültig 1948 in ein öffentliches „Puschkin-Literaturmuseum“ verwandelt. Es galt auch nach Litauens Unabhängigkeit von 1990 als „Stützpunkt des Russentums“. Gleichzeitig mit der Übergabe seiner Kirche an die Konstantinopel zugewandten Orthodoxen, wurde jetzt die Puschkin-Gedenkstätte in „Markuciai-Museum“ umbenannt. Beide Schritte haben für die litauische Bewegung „Los von Moskau – Hin zu Konstantinopel“ große symbolische Bedeutung.

Hat damit die von den Erzpriestern Vladimiras Seliavko und Vitalijus Mockus geführte, eher noch kleine Schar der nationalkirchlich gesinnten Orthodoxen rasch ein Dach über dem Kopf

bekommen, so bleibt ihr kirchlicher Status vorerst weiter im Ungewissen. Das  „Omophorion“ des Ökumenischen Patriarchen sichert zwar die eucharistische Gemeinschaft mit

dem Großteil der orthodoxen Kirchenfamilie und kanonische Integrität, hat aber den Charakter eines ekklesiologischen Provisoriums. Dass solche oft lang halten, zeigt das Bespiel der

rumänischen Exilgemeinden in Deutschland. Diese hatten sich im Gefolge des Zweiten Weltkriegs nach einigem Hin und Her in den Schutz von Konstantinopel begeben, unter

dessen „Omophorion“ sie sich noch heute befinden. Allerdings unter Aufsicht des Metropoliten Augoustinos Lambardakis von Deutschland. In Zusammenarbeit mit ihm stellen sie

inzwischen wertvolle Partner der griechischen Orthodoxie in der Bundesrepublik dar.

In Litauen hingegen gibt es – noch – keine anderweiten Strukturen des Ökumenischen Patriarchats.

Doch sichert das „Omophorion“ die Unterstützung der antirussischen litauischen Obrigkeit. Schon am 18. Mai 2022, nach dem Einfall Vladimir Putins in die

Ukraine mit Beifall des russischen Patriarchen Kyrill und dem Protest von Litauens Moskauer Metropoliten Innokentij Vasiljev dagegen, hatte sich Litauens Ministerpräsidentin

Ingrida Simonyte in einem Schreiben an Bartholomaios I. gewandt. Ein Teil der orthodoxen Litauerinnen und Litauer könne die öffentliche Unterstützung Kyrills für Putins Krieg gegen die

Ukraine nicht akzeptieren. Sie hätten nach Meinung der Regierungschefin das Recht. „ihren Glauben ohne Gewissenskonflikt zu leben.“ Simonyte erklärte dem Ökumenischen Patriarchen der Orthodoxie die Bereitschaft, über die Rolle ihrer Regierung bei einer Rückkehr Litauens unter die Jurisdiktion von Konstantinopel zu verhandeln. Die Entscheidung über eine Gründung von Kirchgemeinden bzw. eines

Bistums könne allerdings nur am Patriarchensitz im Phanar von Istanbul getroffen werden.

Darin liegt jetzt der nächste Stolperstein auf dem Weg der litauischen Orthodoxen los von Moskau. Im Unterschied zu Estland und Lettland kann Bartholomaios in Litauen nicht auf jüngere Jurisdiktionen Konstantinopels zurückgreifen. In Tallin und Riga hatte der Phanar zwischen den Weltkriegen schon einmal mit Anerkennung der dort nach der Oktoberrevolution aus der zerfallenden zarischen Reichskirche gelösten autonomen Kirchengebilde Fuß gefasst. Nach Rückkehr der Sowjetrussen ins Baltikum wurden diese wieder dem Moskauer Patriarchat einverleibt. Viele Priester setzten sich aber mit ihrem Bischof und zahlreichen Gläubigen über die Ostsee nach Schweden ab, wo sie Exilkirchen bildeten. Diese wurden weiter von Konstantinopel anerkannt, die Stockholmer Esten z.B. unter dem offiziellen Titel des einstigen byzantinischen Exarchats Ravenna in Italien. Nach der Wende repatriierte das Ökumenische Patriarchat diese seine „autonome“ Kirche zurück ins wieder unabhängig gewordene Estland. Auch in Lettland ist eine Wiederherstellung der 1935 vom Phanar seinen Orthodoxen gewährten Autonomie im Gang.

Lagen das nördliche Baltikum – und Finnland – jedoch ursprünglich außerhalb der Zuständigkeit Konstantinopels, so stellte Litauen bis zu den „Polnischen Teilungen“ zwischen 1772 bis 1795 die wichtigste Säule des Phanars in Osteuropa dar. Eine Rolle, die sich seit der Mongolenherrschaft in der Ost- und Südukraine noch verstärkt hatte. Der Einverleibung Litauens durch die russische Staatskirche hatte das zu jener Zeit geschwächte Konstantinopel zunächst wenig entgegenzusetzen. Erst das Wiedererstehen Polens nach 1918 brachte den orthodoxen Südosten Litauens – und mit ihm das heutige Belarus – zunächst politisch unter die Herrschaft Warschaus. Sogar Vilnius – damals Wilna genannt – wurde 1922 an Polen angeschlossen, nachdem dort General Lucjan Zeligowski ein kurzlebiges „Mittellitauen“ geschaffen hatte. So kamen die orthodoxen Litauer mit in den Genuss der Autokephalie, die am 13. November 1924 von Patriarch Konstantinos VI. seinen jetzt zu Polen gehörenden Sprengeln der historischen Kiewer Metropolie von Konstantinopel verlieh. In Litauen besteht also eine eigentlich für Konstantinopel sprechende, aber ebenso verzwickte kirchliche Situation wie in der Ukraine. Bartholomaios I. wird sich daher nicht übereilen, dieses zweite gefährliche Heiße Eisen in der ehemaligen Sowjetunion anzupacken.

Bleibt also längerfristig nur das „Omophorion“ als Zugeständnis des Phanar an seine Getreuen in Litauen. Das liturgische Kleidungsstück (Parament), auf das sich dieser kirchenrechtliche

Fachausdruck bezieht, ist in vielen Ostkirchen ein mit Kreuzen verzierter Brokatstreifen, den der Bischof um die Schultern wirft. Er dient als Sinnbild des verlorenen und wiedergefundenen Lamms auf den Schultern des Guten Hirten. Von daher hat sich im Ökumenischen Patriarchat die Praxis der Aufnahme in anderen Jurisdiktionen ausgegrenzter Kleriker „unter das Omophorion“ Konstantinopels eingebürgert.

Dem ostkirchlichen „Omophorion“ entspricht das „Pallium“ im abendländischen Patriarchat des Bischofs von Rom, hat aber in der West-Kirche eine ganz andere Entwicklung genommen:

Statt eines über bedrängte Geistliche ausgebreiteten Schutzmantels ist daraus ein vom Papst verliehenes Zeichen der Würde eines Metropoliten (Vorsteher einer Kirchenprovinz) geworden. Seine Verleihung mussten sich im Mittelalter die Anwärter etwas und oft viel kosten lassen. Dieses in die päpstliche Kasse zu entrichtende „Palliengeld“ erreichte manchmal astronomische Höhen. So hatte der Magdeburger Erzbischof Albrecht von Brandenburg für seine Wahl zum Metropoliten von Mainz an Leo X. 1517 ganze 20 000 Gulden zu entrichten, das wären heute etwa zehn Millionen Euro! Diese Unsumme war natürlich nicht für den Papst persönlich, seinen Hof und seine Konkubinen bestimmt, sondern wurde zum Bau des Petersdomes verwendet. Der zur Aufbringung dieser Millionen von Albrecht gebilligte Ablasshandel gab allerdings den Anstoss zum Auftreten von Martin Luther…

Zur vorerst weiter recht ruhigen Lage am litauischen Kirchenschauplatz trägt auch die besonnene Haltung des Moskauer Patriarchats in seinen Jurisdiktionsgebieten außerhalb der Russländischen Föderation bei. Bei allem Gleichziehen von Patriarch Kyrill mit Vladimir Putin und dessen Krieg in der Ukraine lässt er in seinen Auslandsbistümern die Freiheit, diese kriegerische Verwicklung abzulehnen – solang sie nur der kirchlichen Gemeinschaft mit Moskau die Treue halten.

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