Wilder Mann am Bosporus
Caricature: © Markus Szyszkowitz
Die Türkei schlägt gefährlichen Alleingang ein
Von Heinz Gstrein
2020 sollte das Jahr österreichisch-türkischer Freundschaft werden, wäre es nach der früheren Außenministerin Karin Kneissl gegangen. Inzwischen hat sich aber das Image Ankaras so verschlechtert, dass am Wochenende Kneissls Nachfolger Alexander Schallenberg seine EU-Kollegen in Berlin dazu aufrief, „der Türkei endlich Kanten“ zu zeigen. Die Beitritts-Gelüste vom Bosporus zur Europäischen Union nannte er sogar einen „Kadaver mit Verwesungsgeruch“.
So undiplomatisch harte Worte provoziert jedoch Machthaber Recep Tayyip Erdogan selbst durchs Zündeln mit mediterraner Kriegsgefahr. Obwohl er im Schwarzen Meer gewaltige türkische Erdgasvorkommen gefunden haben will, lässt er vor Griechenland und Zypern seine Bohrschiffe unter Flottenschutz in strittigen Gewässern operieren. Wenn er das weiter tut, drohen der Türkei Ende September empfindliche EU-Sanktionen. Auch die NATO gerät unter Zugzwang.
Die Türkei will sich aber zur See als Großmacht aufspielen, nachdem Erdogans sonstige Expansionspläne erfolglos geblieben sind. Die Versuche, Ägypten und Syrien mit Hilfe der Muslimbrüder gleichzuschalten sind gescheitert, der Siegeszug seiner Kampfdrohnen und Söldner in Libyen stockt. Auch die Bedrohung der Europäer mit einer neuen Flüchtlingswelle wie 2015 hat ihren Schrecken verloren, seit mehr politisch verfolgte Türken als Syrer und Afghanen griechische Inseln ansteuern. Es gibt in der Türkei heute kaum mehr eine Familie, die nicht ein Mitglied im Gefängnis oder brotlos hätte, nachdem es als „unzuverlässig“ vom Arbeitsplatz entfernt wurde.
„Nach Innen Unterdrückung – nach Außen Auftrumpfen“, charakterisiert der politische Analyst Baskin Oran vom noch halbwegs unabhängigen Privatfernsehen „Arti“ (Plus) den labilen Kurs Erdogans. Bis zu Außenminister und Premier Ahmet Davutoglu, der sich 2016 zurückzog, galt die türkische Diplomatie als meisterhaft, ausgewogen und realitätsbezogen. Heute ist sie hingegen so sprunghaft und widersprüchlich, dass nur ein Wirrkopf dahinterstecken kann. Aus dem einst „kranken Mann am Bosporus“ zur vorletzten Jahrhundertwende ist ein „wilder Mann“ geworden!