Kann Libanon überleben?
Macron koordiniert globale Hilfe und politische Reform
Von Heinz Gstrein
Im Hafen von Beirut starren die Menschen noch immer fassungslos in einen fast 50 Meter tiefen Krater, den die gigantische Explosion vom letzten Dienstag gerissen hat. Am Rand des Abgrunds steht aber ganz Libanon mit hunderten Toten und Vermissten, tausenden Verletzten, mehr als einer Viertelmillion Obdachlosen. Der „Große Knall“ des in krimineller Nachlässigkeit jahrelang gespeicherten Ammoniumnitrats hat auch die rundum gelagerten Lebensmittel und Medikamente zur Linderung der akutesten Nöte vernichtet. Ausgelöscht bei vielen auch die letzte Hoffnung, die so verantwortungslose politische Führungsclique könnte das Land noch einmal aus seiner Dauerkrise herausführen.
Zur Bewältigung der dringendsten materiellen Bedürfnisse fand am Sonntag unter der Ägide Frankreichs eine Videokonferenz von 30 Weltpolitikern mit Präsident Donald Trump an der Spitze statt. Deutschland sagte zehn Millionen Euro an Soforthilfe für Libanon zu. Der Gesamtbeitrag der EU wird 63 Millionen betragen.
Mit dieser Finanzhilfe allein wird das schon vor dieser Katastrophe von einer monatelangen Vertrauenskrise in sein etabliertes politisches System heimgesuchte Zedernland aber nicht zu retten sein. Es regieren Männern aus immer den gleichen Familienclans. Auch die für Montag erwartete Festsetzung von Neuwahlen kann die nach dieser Katastrophe noch militanteren Demonstranten in Beirut nicht beruhigen, da das Wahlsystem nach Religionsgemeinschaften die veralteten politischen Kräfte bevorzugt. Eine am Samstag verkündete „Revolution“ wird umso handgreiflicher, als Offiziere der Armee sie unterstützen und diese Erhebung mit dem Aufgebot freiwilliger „Aufräumbrigaden“ den weiter hilflosen Behörden konstruktive Alternative bietet.
Libanons „altes Regime“ könnte sich nur dann vom Vorwurf einer allein durch eigene Sorglosigkeit verursachten Katastrophe entlasten, sobald ein Fremdverschulden am Entzünden der über 2 700 Tonnen Ammoniumnitrat nachweisbar wird. Erste NATO-Quellen deuten in Richtung Islamischer Staat (IS). Er sei dabei vom Militärunternehmen Sadat S.A., dem türkischen Anbieter von Terrordienstleistungen zum Zweck „islamischer Vormacht“, unterstützt worden. Eigentümer ist Ex-General Adnan Tanriverdi, ein Berater von Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Umso positiver beurteilen nahöstliche Beobachter den Blitzbesuch von Präsident Emmanuel Macron in Beirut als aktive Rückkehr der Ordnungsmacht Frankreich in den Orient. Macrons Wiederkunft am 1. September fällt mit dem 100. Jahrestag der Schaffung des heutigen „Großlibanon“ aus einem schon bestehenden autonomen Christengebiet und seiner von Muslimen und Drusen bewohnten Umgebung durch die Franzosen zusammen. Doch weder im Libanon noch im benachbarten Syrien, die der Völkerbund 1920 Paris aus der Erbmasse des Osmanischen Reiches als Mandat anvertraut hatte, konnte Frankreich seine Pläne zu Ende führen. Da es die französischen Behörden und Truppen in der „Levante“ mit der von Deutschland abhängigen Vichy-Regierung hielten, wurden sie von den Briten 1941 entmachtet. Zwei Jahre später erhielt Libanon die Unabhängigkeit ohne Strukturen für seine Integration. Notlösung war ein politischer Konfessionalismus, an dem das Land bis heute krankt, unter dem Christen, Sunniten, Drusen und die seit den 1980er Jahren erstarkenden Schiiten mehr oder weniger feindselig nebeneinander herleben.
Macron hat in seiner Rede vor dem Beiruter Trümmerhaufen angedeutet, dass Frankreich dem Land nun nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch mit Vollendung seiner alten Pläne für ein wirklich integriertes und stabiles Libanon helfen will. Ausgerechnet die türkische Presse, an ihrer Spitze Erdogans Leibpostille „Sabah“ (Der Morgen), kritisieren das als Rückfall von Paris in eine Kolonialmentalität. Spontan haben aber jetzt schon 60 000 Libanesinnen und Libanesen eine Petition für erneuten Schutz ihrer Heimat durch Frankreich unterzeichnet! Das kleine Land ist ohne Protektor nie ausgekommen, doch hat Beirut in den letzten Jahrzehnten mit Syrien keine guten Erfahrungen gemacht…