Orthodoxe Sozialerklärung: Ökumene als ethische Verpflichtung
Weltreligiöser Beitrag zu vertieftem Eucharistieverständnis
Von Heinz Gstrein
Istanbul. Die Hoffnung, das Konzil auf Kreta vom 19. bis 27. Juni 2016 werde den Anbeginn eines breiteren Aufbruchs in der griechisch-orthodoxen Kirchenfamilie bedeuten, beginnt sich nun gerade in ökumenischer und weltreligiöser Hinsicht zu erfüllen. Es war ein wichtiges Verdienst der „Heiligen und Großen Synode“, mit § 2 ihrer Enzyklika und ausdrücklich im Dokument „Das Verhältnis der orthodoxen Kirche zur übrigen christlichen Welt“ ein unwiderrufliches Ja zum Dialog und in Richtung Zusammenwachsen mit den anderen Kirchen und Religionen gesprochen zu haben.
Dazu ist nun auf Ostern 2020 eine ebenso tief fundierte wie praktisch hilfreiche Anleitung gefolgt. Im Rahmen der Erklärung des Ökumenischen Patriarchats „Für das Leben der Welt – Das Sozialethos der orthodoxen Kirche“ (ÖKI 14 vom 31.3.2020) behandelt Teil VI „Ökumenische Beziehungen und Beziehungen mit anderen Religionen“ (§50-60).
Die Orthodoxie erklärt darin den Ökumenismus zur ethischen Verpflichtung aller Christen, an sichtbarer Vollendung der Einen Kirche Jesu zu arbeiten. Was dazu alle in jeder Lage beitragen können, wird gleich vom Untertitel dieses Kapitels empfohlen: „Lasst uns für die Einheit aller beten.“ Tatsächlich gibt es schon Ansätze für eine breite orthodoxe Gebetsbewegung zur Einigung der Kirchen und Religionen.
Bei Standortbestimmung der Orthodoxie im ökumenischen Zusammenhang bezieht sich der Text auf den russischen Exiltheologen Georg Florowski (1893-1979). Er hatte schon in früher Ökumene die besondere orthodoxe Rolle in ihrer ungebrochenen Kontinuität der Ostchristenheit des ersten Jahrtausends erkannt (The Ecumenical Review XII 2, Genf 1960, 186). Diese Sicht hat dann erneut vom 1.-3- September 2019 die internationale Konferenz „Das theologische Vermächtnis von Erzpriester Georg Florowski“ bekräftigt. Die Orthodoxie sei daher berufen, den anderen Christen nur in ihr bewahrte ekklesiologische, liturgische, spirituelle Reichtümer in ökumenischem Austausch anzubieten. Dieser Prozess ist in den Bereichen Gottesdienst oder Frömmigkeit, mit Entdeckung der orthodoxen Ikonenwelt, aber auch kirchlichen Synodalität schon in vollem Gang. Sogar von reformierter Seite ließ der Schweizer Kirchenpräsident Gottfried Locher aufhorchen, als er 2017 am Evangelischen Kirchentag Berlin-Wittenberg die Orthodoxie ansprach als „einen Schatz, der auf uns zukommt“.
Dieses Verständnis als Bereicherung der anderen Kirchen aus dem christlichen Osten und Orient ermöglicht es nun auch den recht zahlreichen orthodoxen Gegnern des Ökumenismus, ihn als Weg einer Rückkehr der Getrennten zur Rechtgläubigkeit zu akzeptieren, wie sie von ihnen als ausschließliche Basis der Wiedervereinigung gefordert wird.
Dennoch schließt dieses Postulat der Identität von alter und orthodoxer Kirche nicht Offenheit dafür aus, über die Weiter- und Sonderentwicklung bei römischen Katholiken und Christen der Reformation nachzudenken und sie auf ihre Erklärbarkeit aus orthodoxen Grundlagen zu prüfen. Damit bejaht diese Sozialerklärung in ihrem ökumenischen Teil – wie schon das Konzil von Kreta – ausdrücklich die orthodoxen Dialoge mit anderen christlichen Bekenntnissen. Das erscheint in dieser Stunde besonders wichtig, zu der die Boykottierung aller gemeinsamen ökumenischen Schritte mit dem Ökumenischen Patriarchat durch die Russische Orthodoxe Kirche diese Glaubensgespräche auf Eis legt.
Mit seinem Goldenen Schmitt zwischen den Grundsätzen einer sich selbst immer treu bleibenden Kirche und der „ecclesia semper reformanda“ bejahen die Autoren der neuen orthodoxen Ökumene-Handreichung aber auch das Spannungsfeld im als „abendländische Orthodoxie“ angetretenen Altkatholizismus zwischen Döllingers Vision einer Erneuerung der ungeteilten Kirche des ersten Jahrtausends und letzten Weiterentwicklungen wie hin zur Frauenordination.
Die Ausweitung des Ökumenismus der Kirchen auf ihr Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen rechtfertigt diese orthodoxe Soziallehre mit der Vision vom „ausgesäten Göttlichen“ Wort, dem „Logos Spermatikos“; Zwar findet sich die Fülle der Offenbarung nur in der Heiligen Schrift und der kirchlichen Überlieferung, doch ist auch den anderen Glaubensformen und sogar philosophischen Lehren ein „Samen“ des Logos anvertraut, der auf seine Erfüllung im ewigen Christus hinweist, nach ihr verlangt und drängt. Diese Lehre wurde schon im 1.Jh. von Justin dem „Philosophen“ verkündet und ein halbes Jahrtausend später durch Maximus den Bekenner zu einer – wie es Hans Urs von Balhasar formulierte –„Kosmischen Liturgie“ entfaltet.
Diese ausdrückliche Festlegung auf die frühchristliche Religionsphilosophie des Logos Spermatikos ist umso bedeutsamer, als ihre Anwendung bei den heutigen Begegnungsversuchen zwischen den Religionen erst unlängst noch durch einen geschäftigen Würdenträger des Ökumenischen Patriarchats abgelehnt wurde; Der von der Ukraine bis zum interreligiösen Dialog im Phanar für allzuviel zuständige Metropolit Emmanuel Adamakis hatte im November 2014 bei einer Pressekonferenz des König-Abdullah-Zentrums für den interreligiösen und interkulturellen Dialogs (KAICIID) in Wien erklärt, dass es für diesen keine solche Vision brauche. Es komme einzig und allein auf praktische Zusammenarbeit an, theologische Konzepte seien einer Annäherung sogar hinderlich. Der interreligiöse Dialog dürfe nicht in die Hände der Theologen fallen…
Diese Vereinfachung der Dinge bedeutet aber Gleichmacherei der Religionen als ungebrochene Entfaltungen ein- und derselben Wahrheit. Dem gegenüber wird in diesem Text betont, dass zwischen der Kirche und den anderen religiösen Überlieferungen auch „unvereinbare Unterschiede“ herrschen, die nicht verdunkelt werden dürfen. Das entspricht der Einsicht, dass nicht alles an der weltreligiösen Vielfalt gottgewollt, sondern auch vom Bösen ist. Dieser unauflösbare Rest kann nicht mit Dialog und Konzilianz allein bewältigt werden. Ihm sind nur Gebet und Opfer bis hin zum Blutzeugnis gewachsen.
Die Verfasser dieser Erklärung sind jedenfalls voll bemüht, der christlichen Begegnung mit den Weltreligionen eine theologische Basis zu geben. Nicht zufällig haben sie in §56 den Islam noch vor das Judentum gereiht. Enthält dieser doch als einziger einen Widerhall der Logostheologie in seiner Lehre vom „Himmelsbuch“, dessen irdische Abschriften die verschiedenen Heiligen Bücher aller Eingottgläubigen darstellen. Die Juden betreffend bemüht sich §57 um die Einsicht, dass auch das Fortbestehen eines am historischen Jesus vorbeigegangenen Judaismus im Plan der göttlichen Vorsehung seinen Sinn habe und daher jeder religiös, rassisch oder politisch begründete Antisemitismus unchristlich und sündhaft ist.
In ihrer Zusammenschau der nichtchristlichen Welt und ihrer Hinführung zur Erfüllung in Jesus Christus beschränkt sich die „Sozialbotschaft“ nicht auf die so genannt abrahamitischen Religionen. Der „Logos Spermatikos“ findet sich auch in Fernost und Indien. So haben orthodoxe Religionsphilosophen schon auf einen inneren Zusammenhang zwischen Eucharistie und tantrischem G-Tschod-Ritual hingewiesen. Darin betet der Opfernde: „Esset! Ich gebe mein Fleisch dem Hungernden, mein Blut dem Dürstenden!“.-Genau.in diesem Geist ruft jetzt inmitten der Coronaseuche der orthodoxe Erzbischof von New York, Elpidoforos Lambriniadis, dazu auf, angesichts der fast unmöglich gewordenen Teilnahme am Altarsakarament selbst als Blutspender eucharistisch zu wirken. In seiner Botschaft vom 3. April rät er: „Die Stunde ist da, auf andere Weise zu kommunizieren, selbst Leib Christi und göttliche Eucharistie zu werden, um die Welt mit unserem Blut zu retten…Auch das ist ein makelloses Sakrament, Sakrament der Liebe und des Opfers für unsere leidenden Mitmenschen!“