Antiochia wird wieder auferstehen!
Patriarch Johannes X. in seinen verwüsteten türkischen Sprengeln – Schwierige, doch ermutigende Begegnung mit Bartholomaios I.
Von Heinz Gstrein
Antakya (Antiochia). Der griechisch-orthodoxe Patriarch von Antiochia, Johannes X., hatte nach den beiden Katastrophenerdbeben vom Februar mit fast einer Stärke 8, um die 50 000 Toten und 20 Millionen Obdachlosen zuallererst die besonders schwer geprüfte Stadt Aleppo (Halab) aufgesucht. Dort waren den noch offenen Wunden des jahrelangen syrischen Bürgerkriegs die verheerenden Erdstöße gefolgt. Sie hinterließen 200 000 unbewohnbar gewordene Quartiere. Die orthodoxe Elias-Kathedrale erlitt wie durch ein Wunder keinen Schaden. Doch war ihr Metropolit Paulos Yazigi, noch dazu ein Bruder des Patriarchen, vor genau zehn Jahren am 22. April 2013 entführt worden. Auch heute noch fehlt von ihm jede Spur. So lag über dem ganzen Aleppo-Besuch von Johannes X. eine gedrückte Stimmung. Die schlug sich auch in seiner eher pessimistischen Bemerkung nieder: „Diese Erdbeben haben uns gezeigt, wie ohnmächtig wir Menschen den Naturgewalten ausgeliefert sind!“
Da klang der Patriarch, vor seiner Erwählung 2012 antiochenischer Diasporametropolit in Köln, jetzt bei der Pastoralvisite vom 13. bis 22. April in seinen ebenfalls von den Erdstößen heimgesuchten Jurisdiktionsgebieten in der Türkei inzwischen viel zuversichtlicher. Aus den Ruinen seines alten Amtssitzes in Antiochia, dem heute türkischen Antakya, verkündete Johannes X. in der orthodoxen Osternacht: „Unsere Kirche wird aus den Trümmern auferstehen!“. Nicht nur aus jenen der jüngsten Erdbeben, auch aus ihrer Zertrümmerung in der modernen Türkei des vorgeblichen Europäisierers Kemal Atatürk: Die Sprengel Diyarbakir, Erzerum und „Akiska“ (Akhisar) waren schon 1915 bis 1918 im Sog des Genozids an den armenischen und aramäischen Christen untergegangen. 1921 übergab das im Ersten Weltkrieg auch über die osmanische Türkei siegreiche Frankreich das von ihm besetzte Cilicien mit Adana und dem Hafen Mersin an die Kemalisten, was dort Massaker nicht nur an den Armeniern, sondern ebenso an den antiochenischen, „rum-orthodoxen“ Christen zur Folge hatte. Weniger blutig gestaltete sich 1938/39 die Preisgabe des syrischen „Sandschak von Alexandrette“ an Ankara, um dieses von einem Kriegseintritt an der Seite von Hitlerdeutschland abzuhalten.
Als „Hatay“ wurde dieses Gebiet erst Bestandteil der Türkei, als deren schlimmste christenfeindliche Maßnahmen schon überstanden waren. Aber auch dort durften sich diese griechisch-orthodoxen Christen arabischer Sprache nur in „Kultur- bzw. Kultusgemeinden“ organisieren. Es gab bis heute weder Bistümer noch Pfarrgemeinden, keine eigenen Kirchengebäude. Diese Pastoralvisite von Johannes X. wurde als erste seit osmanischer Zeit gestattet, als man jetzt in Ankara nach den geradezu biblischen Zerstörungen durch die Erbeben Hilfe von jeder nur erdenklichen Seite anzunehmen begann.
Am 19. April kam es in Antakya auch zu einer Begegnung zwischen Johannes X. und dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I., die aber keinen kirchlichen Hintergrund hatte. Vielmehr organisierte der aktive und einflussreiche Gemeindepräsident von Yeniköy (Neochori) am Bosporus, Lakis Vingas, mit seinem Freund, dem Bürgermeister Haydar Ali Yildiz von Istanbuls Stadtteil Beyoglu, im fernen Antakya für alle religiösen Führungspersönlichkeiten der Türkei ein gemeinsames Abendessen, ein Iftar. Diese sind im Ramadan zum abendlichen Fastenbrechen in größerer Gesellschaft üblich und neuerdings zu ökumenischen Anlässen geworden. Der Einladung dazu an die Seite von Bartholomaios konnte sich der rum-orthodoxe Patriarch nicht entziehen, obwohl das Verhältnis von Antiochia zu Konstantinopel nicht erst von wegen des kirchlichen und inzwischen auch militärischen Ukrainekonflikts gestört ist.
Die Ursachen dafür gehen bis in die frühe osmanische Zeit zurück, als Mehmet II. nach dem Fall von Konstantinopel dessen Patriarchen zum religiösen und zivilrechtlichen Oberhaupt des gesamten griechisch-orthodoxen „Religionsvolkes“ (rum milleti) ernannt hatte. Das bedeutete für die anderen Patriarchen „im Reich“ des Sultans eine Abwertung. Diese machte sich auch bald im Hineinregieren des Phanars in Alexandria, Jerusalem und eben auch in Antiochia bemerkbar. Die Metropolis Aleppo gelangte lang unter direkte Konstantinopler Kirchenverwaltung, als Patriarchen von Antiochia – die übrigens schon seit 1342 in Damaskus residierten – fungierten levantinische Griechen, wenn diese sich auch nie wie ihre Amtsbrüder von Alexandria und vor allem Jerusalem meist im Phanar aufhielten. Im positiven, doch seltenen Fall ermöglichte dieses Zusammenrücken der vier altkirchlichen Patriarchate dem antiochenischen Oberhirten einen Aufstieg zur bestimmenden Kraft der gesamten Orthodoxie. So im Fall von Joakim V. (1581-1592), der seine Aktivitäten bis nach Lemberg ausdehnte. In dem späteren Zentrum der altösterreichischen Griechisch-Katholischen verlieh er 1586 der „Himmelfahrtsbruderschaft“ (Uspens´ka) weitreichende Privilegien, die das damals polnische Lwow bis ins 18. Jahrhundert hinein zu einer Hochburg der Orthodoxie gemacht haben. Eine weitere kirchengeschichtliche Leistung war die Erneuerung des darniederliegenden Patriarchats von Alexandria durch Einsetzung des in Padua ausgebildeten Meletios I. Pigas (bis 1601). Andererseits nahm aber Joakim V. die Beziehungen der antiochenischen zur russischen Kirche auf, mit Entgegennahme einer Spende von 200 Rubel aus der Hand Iwan IV. des „Schrecklichen“
Damit trat er eine Entwicklung los, die in den nächsten zwei Jahrhunderten zur Herauslösung aus der osmanischen Patriarchengemeinschaft und immer stärkerer Hinwendung von Antiochia zu Moskau führen sollte. Entscheidend wurde, dass das zarische Rußland die arabische Nationalbewegung der „Nahda“ (risorgimento), die von orthodoxen Intellektuellen getragen wurde, für seine Zwecke zu manipulieren wusste: Nach einer letzten Reihe griechischer Patriarchen aus der Jerusalemer Bruderschaft vom Heiligen Grab wurde deren letzter, Spyridon (ab 1891), nach sechsjähriger Amtszeit zum Rücktritt genötigt. An seine Stelle trat mit Unterstützung aus St. Peterburg der erste arabische Patriarch Meletios Dumani, vorher Metropolit von Latakia. Diese Verbundenheit mit der engsten Heimat des Assad-Clans sollte sich bald für die neueste Geschichte des antiochenischen Patriarchats fast ebenso prägend erweisen wie die unter dem Zaren, Stalin und Putin ungebrochene Hinwendung zu Russland. Auch der heutige Patriarch Johannes X. stammt aus dieser Ecke. Seine Weihnachtsfeier von 2020 mit Wladimir Putin und dem syrischen Präsidenten Baschar als Assad bot davon ein unmissverständliches Bild.
Die heutige Distanz zwischen Antiochia und dem Phanar wird durch all das verständlich. Dazu kommt, dass Bartholomaios I. eines seiner 1922 bei der großen Christenvertreibung untergegangenen Bistümer nach dem anderen jetzt wiedererrichten darf, während der rum-orthodoxen Kirche das verwehrt bleibt. Beim Iftar in den Ruinen von Antiochia/Antakya blieb zunächst der Ökumenische Patriarch seinem antiochenischen Tischnachbarn gegenüber eher zugeknöpft. Beobachter bringen das aber auch mit seinem Kummer über in Istanbul konstruierte Diebstahlbeschuldigungen gegen einen seiner engsten geistlichen Mitarbeiter in Zusammenhang. Jedenfalls sind die beiden Patriarchen dann doch ins Gespräch gekommen. Themen sollen die Ukraine, ein Ausgleich zwischen Konstantinopel und Antiochia in der Türkei und ökumenische Begegnungspunkte gewesen sein. Für die zerrissene Orthodoxie von heute sicher ein hoffnungsvoller Anlauf…