Evangelische Bemühungen nur bei Mar-Thomas-Kirche voll erfolgreich
Die bei den Orthodoxen versuchte Reformation
Von Heinz Gstrein
Trivandrum/Kerala. Der Tod des 90jährigen Metropoliten Joseph Mar Thoma am 18. Oktober im indischen Trivandrum erinnerte daran, dass er der einzigen orthodoxen Kirche vorstand, die sich in ihrer Gesamtheit der Reformation geöffnet hat: Die Mar-Thomas-Kirche mit ihren rund einer Million Gläubigen geht nach alten Überlieferungen auf ein Wirken des Apostels Thomas im Süden Indiens zurück. Auf historischem Boden steht sie seit dem Mittelalter mit der Ankunft syrisch-orthodoxer Glaubensboten. Im späten 19. Jahrhundert fand sie Anschluss an die evangelische Welt.
Reformatorische Christen waren von Anfang an bemüht, ihre Anliegen auch in die Orthodoxie einzubringen. Nach einem ersten Vorstoß von Melanchthon 1559 versuchten Tübinger Theologen, über lutherische Prediger an der kaiserlichen Gesandtschaft in Stambul, den bedeutenden Ökumenischen Patriarchen Jeremias II. Tranos (1572-79 und 1580-84) zu beeinflussen. Erfolgreich war dann aus Genf der seit 1628 am Bosporus wirkende Prediger Antoine Léger. Er konnte Patriarch Kyrillos I. Loukaris (mehrmals zwischen 1621 und 1638) persönlich für eine orthodoxe Reform im Sinn Calvins gewinnen. Doch fand dieser dafür keinen breiteren Rückhalt. Ein Grund dafür war, dass die volkstümlichen reformatorischen Anliegen wie Bibel und Gottesdienst in einer dem Kirchenvolk verständlichen Sprache, Darreichung des Abendmahls in den Gestalten von Brot und Wein oder die Weihe verheirateter Männer zu Diakonen und Priestern seit eh und je in der Orthodoxie selbstverständlich sind.
Es setzte daher im christlichen Osten erst dann breitere Bereitschaft zu einer eigenen Reformation ein, als die pietistische Verinnerlichung des Protestantismus und ihr Hervorbringen von evangelischen Freikirchen auch Alternativen zum orthodoxen Staats- und Landeskirchentum boten. Als erster bemühte sich 1737 der Gründer der „Brüdergemeine“, Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, im Phanar Neophytos VI. (1734–1740, 1743–1744) für Herrnhut zu gewinnen. Der um das orthodoxe Mönchtum verdiente Ökumenische Patriarch konnte sich aber doch nicht entschließen, „Familienklöster“ nach pietistischem Vorbild einzurichten.
Ein viel stärkerer Impuls ging Richtung ostslawische Orthodoxie von Halle aus. Dort übersetzte 1735 der ukrainische Student Simon Todorski das „Wahre Christentum“ des wichtigen nachreformatorischen Theologen Johannes Arndt (1555-1621) ins Kirchenslawische und verbreitete es nach seiner Heimkehr im zarischen Russland. Dieses erfolgreichste Werk deutscher Erbauungsliteratur wurde dort zwar später von der amtlichen Orthodoxie verboten. Dank des Bischofs Tichon von Zadonsk (1724-1783), eines Wegbereiters der innerlichen Erneuerung im so genannten Starzentum, erlangte es jedoch großen Einfluss auf die russische Volksfrömmigkeit. Noch Dostojewski gestaltete in seinen „Brüdern Karamasow“ die Gestalt des Starzen Sosima nach dem Vorbild von Tichon. Neuerdings hat der Russenseelsorger im Bistum Münster, Heinrich Michael Knechten, in seinem reichen Schrifttum 2006 die „Evangelische Spiritualität bei Tichon von Zadonsk“ nachgewiesen. Doch kam es zu keiner eigenen evangelischen Kirchengründung.
Eine solche erfolgte erst nach der Bekanntschaft mit dem Pietismus deutscher Einwanderer, die vor ihrer landeskirchlich-obrigkeitlichen Ausgrenzung Zuflucht in den Weiten Russlands suchten. Nach dem Vorbild ihrer Gebets- und Bibelstunden bildeten sich als erste ukrainisch-russische Freikirche die „Stundisten“. Auch freikirchliche Orthodoxe, so genannte Altgläubige, stellten sich ganz auf den Boden der Bibel, bekannten ein „spirituelles Christentum“ und tranken auch an orthodoxen Fasttagen die mit dem Fleisch verbotene Milch, weshalb sie Molokanen (Milchtrinker) genannt wurden.
Werden beide Gemeinschaften von der russischen Orthodoxie bis heute oft als Sekten abgetan, so hat bei Armeniern und Kopten evangelische Erweckung zu bedeutsamen Kirchengründungen geführt. In Istanbul schlossen sich Studenten der 1828 gegründeten Theologischen Seminars Surp Hac – an jener Ausbildungsstätte, die heute seit 1971 wie auch Chalki vom Türkischen Staat unterdrückt wird – zu einer „Pietistische Union“ zusammen. Nach ihrer Ordination verbreiteten sie die „Pietistische Bewegung“ in vielen Gemeinden des Osmanischen Reichs. Der armenische Patriarch Matheos II. exkommunizierte 1846 ihre Anhänger. Darauf gründeten 37 Männer und drei Frauen die Armenisch-Evangelische Kirche. Sie ist inzwischen besonders in der armenischen Diaspora verbreitet. Einer ihrer Schwerpunkte, Aleppo, liegt heute in Syrien und hat dort den Bürgerkrieg überlebt. Die schwer beschädigte Immanuel-Kirche wurde vom deutschen Gustav-Adolf-Werk 2018 wiederaufgebaut.
In Ägypten war die Koptische Evangelische Kirche weniger als die orthodoxen Kopten den Verfolgungen unter den Präsidenten Anwar as-Sadat, Hosni Mubarak und vor allem dem Muslim-Bruder-Staatschef Muhammad Mursi ausgesetzt. Zuvor wurden allerdings unter Abdel Nasser in den 1960er Jahren bevorzugt evangelische Einrichtungen konfisziert. Das hatte der sowjetfreundliche „Rote Pharao“ damit begründet, dass es die amerikanische Presbyterian Church war, die seit 1863 in Ägypten unter Kopten und Muslimen gewirkt hat. Immerhin konnte sie etwa 300 000 vom Islam Bekehrte und „erweckte“ Christen gewinnen. Doch auch bei den orthodoxen Kopten geht eine lebendige Sonntagsschulbewegung auf ihren Einfluss zurück.
Nach wie vor bilden aber bei Armeniern und Kopten die Orthodoxen eine überwältigende Mehrheit. Ähnlich bei den Bulgaren, die sich im 19. Jahrhundert gegen die griechische Kirchensprache auflehnten. Das gab sowohl einer bulgarisch-katholischen Kirche, aber auch den Methodisten Auftrieb. Ihre Missionare verkündeten das Evangelium und feierten die Gottesdienste in für das Volk verständlicher bulgarischer Sprache. Die Hoffnung, alle Bulgaren – zu man damals die Mazedonier zählte – würden sich dem Methodismus anschließen, machte aber 1870 die Gründung eines eigenen, vom Ökumenischen Patriarchen unabhängigen Bulgarischen Orthodoxen Exarchats durch Reformsultan Abdül Aziz zunichte.
Weshalb sich aber in Indien die gesamte Mar-Thomas-Kirche der Erneuerung durch persönliche Erweckung auf dem Fundament der Bibel geöffnet hat, hing dort mit ganz besonderen Umständen zusammen: Das bodenständige indische Christentum syrisch-orthodoxer Prägung hatte seit dem 16. Jahrhundert durch seine Zwangskatholizisierung unter portugiesischer Kolonialherrschaft gelitten. Auch nach der späteren Abkehr von Rom zum Patriarchat von Antiochien blieb die Mar-Thomas-Kirche schwer geschädigt: Es gab keine Schulung für die Kleriker, die Eucharistie wurde Lairen nur gegen Zahlung hoher Gebühren gereicht, die Gotteshäuser und kirchlichen Liegenschaften waren von den Gemeinden in den Besitz einzelner Profiteure geraten.
Hervorgegangen aus einer 1836 gebildeten Reformgruppe machte seit seinem Amtsantritt 1877 Metropolit Thomas Mar Athanasius die Reform der Missstände und innerliche Erneuerung zu einem gesamtkirchlichen Anliegen. 1888 erklärten sich die Mar-Thomas-Christen geschlossen als orientalische Kirche innerhalb der „Anglican Communion.
Über die Anglikaner traten sie 1931 auch mit den Altkatholiken in volle Kirchengemeinschaft. Ihre Theologen werden seitdem gern an der Christkatholischen Fakultät (heute „Institut“) der Universität Bern ausgebildet. Das letzte große ökumenische Auftreten des jetzt verewigten Metropoliten Joseph Mar Thoma ist beim 32. Internationalen Altkatholikenkongress vom September 2018 in Wien erfolgt.